© NANAnet Misburg-Anderten
nach oben
Ein nie vergessener Tag in meinem Leben Erinnerungen an den verheerenden Bombenangriff auf Misburg-Süd (”Jerusalem”) am 15. März 1945 Bericht: Ulla Hofmann, geb. Gerke Bilder: NANAnet-Archiv
Wir vier Kinder liegen längst im Bett, wie schon seit längerer Zeit bis auf die Schuhe vollkommen angezogen. Voralarm - Mutti weckt uns. Wir rappeln uns auf, ziehen die Schuhe an, nehmen unsere Gepäckstücke und gehen noch schlaftrunken zur Wohnungstür. Ich meine mich zu erinnern, dass es jetzt schon Vollalarm gab, ein langgezogener auf- und abschwellender Heulton. Er bedeutete höchste Gefahr. Die feindlichen Bomber waren nur noch Minuten entfernt. An der Tür merke ich, dass ich meine Puppe vergessen habe, die im Puppenwagen neben meinem Bett liegt. Schnell will ich noch ins Kinderzimmer zurück. Mein Vater fasst mich energisch am Arm und schiebt mich zur Tür. Mein leises Jammern „aber meine Puppe ....“ wird nicht beachtet. Mit Mutti und meinen drei Schwestern geht es im Laufschritt in den Bunker, der am Ende unserer kurzen Straße steht. Es ist ein großer, quadratischer Zementblock ohne Fenster und mit nur einer Tür. Wie immer gibt es Gedränge am Eingang. Im 1. Stock gelangen wir in unsere ca. 6 qm große kahle Kabine, in der vier Frauen und acht Kinder mit ihrem Gepäck Platz haben müssen. Alles ist sehr eng. Rechts steht ein dreistöckiges, hölzernes Etagenbett für die Kinder, auf der linken Seite eine Holzbank für die Erwachsenen und meine Schwester Ina, 14 Jahre alt. Mein gleichaltriger Nachbarsjungen und ich sind die „Großen“. Uns gehört das obere Bett, das bis zur Decke höchstens 60 cm Platz hat. Wir können gar nicht erst anfangen zu spielen (z. B. Abnehmen), da wir von draußen Einschläge hören. Am Kopfende unseres Bettes ist das Luftloch, vielleicht 15 x 15 cm im Quadrat. Hier hören wir es besonders deutlich: dies eigenartig ziehende Surren und dann den Einschlag. Die Einschläge sind jetzt ganz nah, der Bunker schwankt, die Glühbirnen erlöschen. Es ist stockdunkel. Aus dem Luftkanal kommt nur noch Staub. Muss ich jetzt ersticken? Im Dunkeln explodiert ein Treffer direkt auf unserem schwankenden Bunker. Ich habe das Gefühl, dass nun alles zu Ende ist. Das Schwanken ist bedrohlich. Wir hangeln uns von unseren Betten herunter zu den Müttern. Meine Mutter hält uns vier Kinder ganz fest in den Armen. Ich spüre ihre Angst. Das ist fast noch schlimmer als das eigene, elementare Gefühl des Ausgeliefertseins. Nach diesem Schlag ist plötzlich alles ganz still. Alle Türen stehen offen – aber man hört eine Ewigkeit lang überhaupt keinen Ton von den vielen eingesperrten Menschen. Es ist, als ob alle die Luft anhalten. Irgendwann, wahrscheinlich nach Stunden, dürfen wir nach draußen gehen – Entwarnung. Was ich jetzt sehe, kann ich nicht glauben: die ganze Karlstraße steht in Flammen. Sie schlagen aus allen Fenstern, aus jedem Stockwerk. Und unser Haus? Das gibt es nicht mehr. Ein großes Loch in der brennenden Häuserreihe. Mein erster Gedanke: meine Puppe! Ich war 8 Jahre alt und habe nie wieder eine Puppe gehabt.
Bildquellen: Werner Steinwachs, Berthold Peil, Siegfried Engelhardt, Gisbert Selke, NANAnet-Archiv
Feuersbrunst in der Nacht nach der Bombardierung "Jerusalems", Misburg-Süd
Durch eine Luftmine zerstörte Volksschule II, vor 1938 Kath. Schule - Blick vom Bunker über den Schulhof nach Süden
Am 15.03.1945 zerstörte Herz-Jesu-Kirche, Max-Kuhlemann-Str. 13 - Blick vom Bunker über den Schulhof nach Osten - links das im Januar 1945 zerstörte Pfarrhaus
Ruine des "Eisengießerei-Hauses", Karlstraße 4
Karlstraße, Ecke Am Bahnhof - zerstörtes Eckhaus Holert - Blick nach Süden zum Bahnhof Anderten-Misburg
Das Buch ist erhältlich bei Wegeners Buchhandlung Hannover-Misburg Buchholzer Straße, Ecke Knauerweg
zu den Engelhardt-Berichten über den 15.03.1945 zu den Engelhardt-Berichten über den 15.03.1945
Siegfried Engelhardt hat die Ereignisse des 15.03.1945 in seinem Buch „5 Jahre im Hagel der Bomben – eine Chronik der Luftangriffe auf Misburg 1940 bis 1945“ beschrieben. NANAnet Misburg-Anderten veröffentlicht den Bericht über den 15.03.1945 mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Mehr Informationen:
Wohnhaus Karlstraße 8 vor der Bombardierung - Hier wohnte Ulla Hofmann bis zum 15.März 1945
Karlstraße 1933 - Blick von der Straße “Am Bahnhof” (heute Anderter Straße) nach Westen
Bunker an der Karlstraße 1986 - an der Ostwand starke Beschädigungen durch die Bombardierung am 15. März 1945
Hauptstraße "Am Bahnhof" (heute Anderter Straße) - Blick nach Norden auf die Ruinen an der Einmündung Karlstraße
Herz-Jesu-Kirche 2013 - heute Kolumbarium
Häuser der oberen Karlstraße 2013 - Blick nach Osten zur Anderter Straße
Häuser der unteren Karlstraße 2013 - Blick nach Westen
Bunker Karlstraße 2013
Bunker - Großraum im zweiten Stock
Gang vor den Kabinen für Mütter mit Kindern im 1. Stock
Einrichtung: Gisbert Selke